AG München: Anspruch auf Herausgabe von Behandlungsunterlagen kann auch auf Versicherung übergehen

Eine Versicherung, die von ihrer Patientin um Unterstützung hinsichtlich der Untersuchung etwaiger (zahn-)ärztlicher Behandlungsfehler gebeten wird, hat das Recht die Behandlungsunterlagen der Patientin von der (Zahn-)Ärztin einzufordern. Insbesondere wenn die Patienten der Schweigepflichtentbindungserklärung zugestimmt und sich mit der Aushändigung der Unterlagen einverstanden erklärt hat.

 

 

AG München
Urteil v. 06.03.2015 – 243 C 18009/14

 

 

Tenor

 

1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin Zug um Zug gegen Erstattung der Kopiekosten die vollständigen Patientenunterlagen betreffend Frau … geboren am … für die zahnärztliche Behandlung zwischen Dezember 2012 und Januar 2013 einschließlich zur Einsichtnahme (in Kopie) herauszugeben, insbesondere

 

  • Aufklärungs- und Einwilligungsformulare
  • Heil- und Kostenpläne
  • Aufnahmebögen
  • Arztberichte
  • Sämtliche Befunde und Befundberichte
  • die vollständige Patientenkarteikarte
  • Operationsberichte

 

2. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu fragen.

 

3. Das Urteil ist für die Klägerin gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 1.500,00 € vorläufig vollstreckbar.

 

Tatbestand

 

Die Klägerin macht gegen die Beklagte Ansprüche auf Herausgabe der Behandlungsdokumentation betreffend die bei ihr versicherte Frau … geboren … Die Versicherte wurde im Dezember 2012 und Januar 2013 durch die Beklagte zahnärztlich behandelt.

 

Die Versicherte gab gegenüber der Klägerin an, dass die Beklagte im Januar 2013 eine Behandlung an ihr vorgenommen habe, die mit ihr nicht besprochen war. Die Verbundskrone soll zerstört worden sein. Auch gab die Versicherte an, dass sie nach der Behandlung weiterhin an Schmerzen und einem bitteren Geschmack im Mund gelitten habe.

 

Unter dem 17.04.2013 entband die Versicherte die Klägerin von der Schweigepflicht und erklärte sich mit der Herausgabe der Krankenunterlagen an die Klägerin einverstanden, da sie die Klägerin um Unterstützung gemäß § 66 SGB V bat (Anlage K 1).

 

Die Klägerin forderte am 29.04.2013 erstmals die Unterlagen bei der Beklagten an. Mit Schreiben vom 12.11.2013 und 07.02.2014 mahnte die Klägerin erneut die Unterlagen an. Eine Reaktion der Beklagten erfolgte hierauf nicht.

 

Mit der Klageerwiderung vom 08.10.2014 legte die Beklagte folgende Unterlagen vor:

 

  • Heil- und Kostenplan vom 11.12.2012 (Anlage B 1) -Schreiben der Krankenkasse vom 13.12.2012 (Anlage B 2)
  • Anlage zum Heil- und Kostenplan vom 11.12.2012 (Anlage B 3}
  • Kopie der Röntgenaufnahmen vom 07.01.2013 und 10.01.2013 (Anlage 6 4)
  • Heil- und Kostenplan vom 07.01.2013 mit Anlage (Anlage B 5)
  • Rechnung vorn 10.01.2013 (Anlage B 7)
  • Schreiben der Krankenkasse vom 10.01.2013 (Anlage B 8)
  • Rechnung vom 08.04.2013 (Anlage B 9)

 

Die mit der Klageerwiderung übersandten Kopien der Röntgenaufnahmen (Anlage B 4) sind nicht auswertbar. In der mündlichen Verhandlung am 11.12.2014 übergab die Beklagte den elektronischen Karteikartenausdruck über die Behandlung der Patientin.

 

In der mündlichen Verhandlung erklärte die Beklagte, ein Vertreter der Klägerin oder Sachverständiger könne sich jederzeit nach vorheriger Ankündigung in ihren Praxisräumen das Original der Röntgenaufnahme ansehen.

 

Die Klagepartei ist der Ansicht, dass der Einsicht- bzw. Auskunftsanspruch unteilbar sei und deshalb nur dann erfüllt sei, wenn er umfassend und vollständig erfüllt wird. Dies sei vorliegend nicht der Fall da jedenfalls keine auswertbare Kopie der Röntgenbilder übergehen wurde. Auch sei durch das Angebot der Beklagten zur Einsichtnahme in ihren Praxisräumen keine Erfüllung eingetreten, da eine Einsichtnahme zum einen nicht erfolgt sei und die Klagepartei zum anderen von ihrem Wahlrecht, sich Kopien gegen Kostenerstattung anfertigen zu lassen, Gebrauch gemacht habe.

 

Die Klägerin beantragt zuletzt:

 

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin Zug um Zug gegen Erstattung der Kopiekosten die vollständigen Patientenunterlagen betreffend Frau … geboren … für die zahnärztliche Behandlung zwischen Dezember 2012 und Januar 2013 einschließlich zur Einsichtnahme (in Kopie) herauszugeben, insbesondere

 

  • Aufklärungs- und Einwilligungsformulare
  • Heil- und Kostenpläne
  • Aufnahmebögen
  • Arztberichte
  • sämtliche Befunde und Befundberichte
  • die vollständige Patientenkarteikarte
  • Operationsberichte

 

Die Beklagte beantragt zuletzt:

 

ich erkenne an unter Verwahrung gegen die Kosten den Anspruch auf Herstellung einer technisch möglichen Ablichtung der beiden Röntgenaufnahmen vom 07.01.2013 und 10.01.2013 gegen Erstattung der Kosten für diese technische Ablichtung. Im Übrigen beantrage ich Klageabweisung.

 

Die Beklagte behauptet, sie habe sich zu keiner Zeit geweigert, vorhandene Unterlagen zur Einsicht vorzulegen oder Kopien hiervon zu ledigen, Die mit der Klageerwiderung vom 08.10.2014 eingereichten Unterlagen hätten der Klägerin von Anfang an vorgelegen.

 

Die Beklagte ist der Ansicht, dass sich eile Hauptsache durch die Vorlage der Unterlagen während des Verfahrens erledigt habe.

 

Vorsorglich macht die Beklagte gegen die Herausgabe der Patientenunterlagen ein Zurückbehaltungsrecht wegen der von der Versicherten nicht bezahlten Rechnung vom 08.04.2013 geltend.

 

Nach Ansicht der Beklagten reicht der Verdacht einer nicht notwendigen oder nicht fehlerfreien Behandlung nicht aus, um die Geltendmachung von Herausgabeansprüchen durch die Krankenkasse nach § 116 SGB X zu begründen. Ansprüche der Versicherten gegen die Beklagte seien nicht auf die Klägerin übergegangen, da die Klägerin den Krankenkassenanteil für die Rechnung vom 08.04.2013 an die Beklagten nicht bezahlt hat. Das Einsichtnahmerecht der Patienten gehe nur auf Dritte über, wenn diese für den Anspruch, den der Patient verfolgen wolle, bereits aufgekommen seien.

 

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf sämtliche Schriftsätze der Parteien sowie die Protokolle der mündlichen Verhandlungen vom 11.12.2014 und 26.02.2015 verwiesen.

 

Entscheidungsgründe

 

Die zulässige Klage ist vollumfänglich begründet.

 

Der Klägerin steht ein Anspruch auf Herausgabe von Kopien der Patientenunterlagen gegen Kostenerstattung aus übergegangenem Recht gemäß § 116 Abs. 1 SGB X i. V. m, §§ 401 Abs. 1 analog, § 412 BGB wegen eines etwaigen Schadensersatzanspruches der Versicherten … aufgrund nicht indizierter oder fehlerhafter zahnärztlicher Behandlung zu.

 

Der bei der Klägerin versicherten … steht ein Anspruch auf Einsichtnahme in die Behandlungsunterlagen zu, wobei dieser Anspruch des Patienten grundsätzlich ohne Darlegung eines besonderen Interesses besteht (BGHZ 72, 132, 137; BGH NJW 1983, 2627, 2628). Dabei kann offen bleiben, ob sich dieser Anspruch aus dem Recht auf Selbstbestimmung und die personale Würde des Patienten (Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs, 1 GG), aus § 810 BGB oder aus dem Behandlungsvertrag in Verbindung mit § 242 BGB ergibt. Der mittlerweile durch den Gesetzgeber in § 630g BGB normierte Einsichtnahmeanspruch ist zwar für den vorliegenden Fall nicht einschlägig, da der streitgegenständliche Behandlungszeitraum vor der Einführung dieser Vorschrift liegt Allerdings wird durch § 630a BGB lediglich die bereits bestehende Rechtslage festgehalten.

 

Der Einsichtnahmeanspruch der Versicherten … ist gemäß § 116 Abs, 1 SGB X i. V. m. §§ 401 Abs. 1 analog, § 412 BGB wegen eines etwaigen Schadensersatzanspruches der Versicherten … aufgrund nicht indizierter oder fehlerhafter zahnärztlicher Behandlung auf die Klägerin übergegangen.

 

Ein auf anderen gesetzlichen Vorschriften beruhender Anspruch auf Ersatz eines Schadens geht nach § 118 Abs, 1 S. 1 SGB X auf den Versicherungsträger über, soweit dieser aufgrund des Schadensereignisses Sozialleistungen zu erbringen hat, die der Behebung eines Schadens der gleichen Art dienen und sich auf denselben Zeitraum wie der vorn Schädiger zu leistende Schadensersatz beziehen.

 

Vorliegend stünde der Versicherten … sollte die Behandlung durch die Beklagte nicht indiziert oder fehlerhaft gewesen sein, ein Schadensersatzanspruch aus § 280 BGB beziehungsweise § 823 Abs.1 BGB zu, der gemäß § 116 Abs. 1 S. 1 SGB X auf die Klägerin überginge. Hilfsrechte, die zur Durchsetzung der Forderung oder zur leichteren Verwirklichung des Hauptanspruchs erforderlich sind, wie der hier streitgegenständliche Anspruch auf Einsichtnahme, gehen in diesem Fall ebenfalls auf den neuen Gläubiger über (BGH, Urteil vom 23.03.2010 – VI ZR 249/08). Dabei ist unerheblich, ob tatsächlich eine Pflichtverletzung der Beklagten vorliegt. Ausreichend ist allein die Möglichkeit einer Schadensersatz begründenden Pflichtverletzung, wie sie vorliegend durch die Versicherte vorgetragen wurde. Gerade in diesem Fall dient das Einsichtnahmerecht dar Klägerin dazu, die Berechtigung etwaiger Ansprüche der Versicherten zu prüfen. Das auf die Klägerin übergangene Recht steht deshalb unter der auflösenden Bedingung gemäß §158 BGB, dass tatsächlich Sozialleistungen zu erbringen sind (Kater, Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, 84. EL, § 116 SGB X, Rn. 143). Auch ist entgegen der Ansicht der Beklagten unerheblich, ob die Klägerin bereits Zahlungen geleistet hat. Denn zum Zeitpunkt des Anspruchsüberganges steht in der Regel der genaue Umfang des Anspruchs noch nicht fest, so dass der Anspruch zunächst nur dem Grunde nach übergeht (Kater, ebda, Rn. 142).

 

Da die Versicherte die Klägerin gemäß Erklärung vom 17.04.2013 (Anlage K 1) von der Schweigepflicht entband und sich mit der Herausgabe der Behandlungsunterlagen einverstanden erklärte, steht der Einsichtnahme der Klägerin auch nicht der Wille der Versicherten entgegen.

 

Der Anspruch der Klägerin ist auch nicht durch Erfüllung gemäß § 362 BGB erloschen. Dabei ist unerheblich, ob – wie von der beklagten Partei vorgetragen – die mit der Klageerwiderung vorgelegten Unterlagen der Klagepartei bereits „von Anfang an“ vorgelegen haben. Denn es ist auch durch die während des Verfahrens vorgelegten Unterlagen keine Erfüllung des Einsichtsrechts eingetreten, da jedenfalls bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung keine auswertbare Kopie der Röntgenaufnahmen vorlag. Diesbezüglich führte auch nicht die Erklärung der Beklagten, dass ein Vertreter der Klägerin die Röntgenaufnahmen in den Praxisräumen ansehen könne, zu einer Erfüllung. Denn die Klägerin begehrt in ihrem Klageantrag die Herausgabe zur Einsichtnahme in Kopie, Die Klägerin hat damit von ihrem Wahlrecht zwischen der Einsichtnahme im Original und der Anfertigung von Kopien gegen Kostenerstattung Gebrauch gemacht, so dass keine Erfüllung durch das Angebot zur Einsichtnahme in den Praxisräumen eingetreten ist. Hinzu kommt, dass die Einsichtnahme in den Praxisräumen tatsächlich auch nicht erfolgte. Da bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung keine auswertbare Röntgenaufnahme vorlag, ist durch die Vorlage der übrigen Patientenunterlagen keine Erfüllung eingetreten, da der Anspruch auf Einsichtnahme in die Patientenunterlagen als einheitlicher Anspruch erst dann erfüllt ist, wenn die Einsicht in die vollständigen Patientenunterlagen gewährt wurde.

 

Die Zurverfügungstellung eines Teils der Unterlagen stellt auch keine teilweise Erfüllung dar. Die Möglichkeit einer teilweisen Erfüllung setzt einen teilbaren Anspruch voraus. Dieser ist vorliegend aufgrund der Einheitlichkeit des Einsichtnahmeanspruchs nicht gegeben. Entgegen der Ansicht der beklagten Partei ist deshalb durch die Vorlage eines Teils der Unterlagen keine teilweise Erledigung eingetreten. Aus dem gleichen Grund war hinsichtlich der Kopie der Röntgenaufnahmen auch kein Teilanerkenntnis möglich, da auch ein Teilanerkenntnis einen teilbaren Streitgegenstand voraussetzt (vgl. Zöller, ZPO, 29. Aufl., § 301, Rn. 2).

 

Letztlich kann die beklagte Partei gegenüber dem Anspruch der Klägerin auch kein Zurückbehaltungsrecht wegen der noch offenen Rechnungsbeträge gemäß §§ 273, 401, 404 BGB geltend machen. Denn ein Zurückbehaltungsrecht gegenüber dem Anspruch auf Einsichtnahme in die Patientenunterlagen ist aufgrund der Natur des Schuldverhältnisses ausgeschlossen. Der Anspruch auf Einsichtnahme in die Patientenunterlagen soll gerade die Feststellung eines möglichen Behandlungsfehlers der Beklagten ermöglichen, aufgrund dessen die Zahlung der Rechnung durch die Versicherte bzw. die Klägerin verweigert wird. Dies würde konterkartiert, könnte dem Anspruch auf Einsichtnahme in die Krankenunterlagen ein Zurückbehaltungsrecht entgegengehalten werden (vgl. Palandt/Grüneberg, 73. Aufl., § 273, Rn. 15).

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO. Der Anspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf §709 8. 1 ZPO.
Rechtsbehelfsbelehrung:

 

Gegen die Entscheidung kann das Rechtsmittel der Berufung eingelegt werden. Die Berufung ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstands 600 Euro übersteigt oder das Gericht des ersten Rechtszuges die Berufung im Urteil zugelassen hat.

 

Die Berufung ist binnen einer Notfrist von einem Monat bei dem Landgericht München I, Prielmayerstraße 7, 80335 München einzulegen.

 

Die Frist beginnt mit der Zustellung der vollständigen Entscheidung, spätestens mit Ablauf von fünf Monaten nach der Verkündung der Entscheidung.

 

Die Berufung muss mit Schriftsatz durch eine Rechtsanwältin oder einen Rechtsanwalt eingelegt werden. Die Berufungsschrift muss die Bezeichnung der angefochtenen Entscheidung und die Erklärung enthalten, dass Berufung eingelegt werde.

 

Die Berufung muss binnen zwei Monaten mit Anwaltsschriftsatz begründet werden. Auch diese Frist beginnt mit der Zustellung der vollständigen Entscheidung.