OLG Hamm: Augenärztin muss 80.000 € Schmerzensgeld zahlen wegen unterlassener Befunderhebung
Eine Augenärztin handelt grob fehlerhaft, wenn sie es unterlässt, den Augeninnendruck bei einer jungen Patientin, die 1,5 Jahre lang über zunehmenden Verlust der Sehfähigkeit klagt, zu messen und entsprechende Behandlungsmaßnahmen einzuleiten. Insbesondere wenn der erhöhte Augeninnendruck auf das Vorhandensein eines (fortgeschrittenen) Grünen Stars verweist.
OLG Hamm
Urteil v. 10.05.2016 – 26 U 107/15
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das am 17. April 2015 verkündete Urteil der 4. Zivilkammer des Landgerichts Bielefeld abgeändert.
Die Beklagte wird über das bisher ausgeurteilte Schmerzensgeld hinaus zu einer weiteren Zahlung von 55.000 € nebst 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 15.000 € seit dem 18.02.2011 und aus weiteren 40.000 € seit dem 19.06.2011 verurteilt.
Im weitergehenden Umfang bleibt die Klage abgewiesen und wird die Berufung zurückgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung von 110% des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in dieser Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Die am xx.xx.1997 geborene Klägerin macht Schadensersatz und Schmerzensgeld aufgrund einer behaupteten augenärztlichen Fehlbehandlung gegenüber der Beklagten geltend.
Die Klägerin leidet seit dem Jahr 2007 an Diabetes mellitus. Sie befand sich vom 08.10.2007 bis zum 26.02.2009 in augenärztlicher Behandlung bei der Beklagten. Die erste Vorstellung erfolgte aufgrund der neu diagnostizierten Diabeteserkrankung. Die Untersuchung erfolgte zunächst ohne pathologischen Befund und ohne diabetische Veränderungen. Nach den Sommerferien 2008 fiel den Eltern der Klägerin auf, dass diese unter einer Visusverschlechterung litt. Die Klägerin stellte sich sodann mehrfach aufgrund fortschreitender Verschlechterung der Sehleistung bei der Beklagten vor. Letztmalig erfolgte eine Vorstellung zum 26.02.2009. Wegen einer deutlichen Sehverschlechterung suchte die Klägerin am 16.03.2009 eine weitere Augenärztin auf. Nach eingehender Untersuchung und sofortigem vergeblichem medikamentösen Senkungsversuch des Augeninnendrucks wurde die Klägerin notfallmäßig in die Augenklinik der Städtischen Klinik in C eingewiesen. Bei der Erstvorstellung am 16.03.2009 wurde die Diagnose eines dekompensierten juvenilen Glaukomera fere absolutum mit Kammerwinkeldysgenesie beidseits bei glaukomaröser Optikusatrophie gestellt. In der Folgezeit erfolgten operative Eingriffe am rechten und linken Auge.
Die Klägerin hat sodann von der Beklagten ein Schmerzensgeld – zunächst in Höhe in Höhe von mindestens 45.000€ – sowie die Zahlung materiellen Schadens i.H.v. 575,54 € und die Begleichung der vorgerichtlichen Kosten i.H.v. 2.513,28 € und zusätzlich die Kosten für die Einholung der Deckungszusage i.H.v. 661,16 € verlangt und darüber hinaus begehrt festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihr jeglichen künftigen materiellen und immateriellen Schaden zu ersetzen. Zur Begründung hat sie ausgeführt, dass die Beklagte sie grob fehlerhaft behandelt habe, weil sie wesentlich früher den erhöhten Augendruck habe feststellen müssen. Sodann hätte sie zur Senkung des Augeninnendrucks Sorge tragen müssen, so dass es nicht zu einer fortschreitenden Schädigung des Sehnervens gekommen wäre. Nunmehr lägen irreversible Schäden in Form massiver Gesichtsfeldausfälle und hochgradiger Sehminderung beider Augen vor. Insoweit müsse die Klägerin nunmehr mit einer vollständigen Erblindung rechnen.
Das Landgericht hat sachverständig beraten durch Prof. Dr. Q dem Klagebegehren entsprochen, jedoch lediglich ein Schmerzensgeld i.H.v. 25.000 € für angemessen gehalten, wobei die Kammer dies als Teilschmerzensgeld ausgeurteilt hat. Insoweit hat das Landgericht die Ausurteilung eines Teilschmerzensgeldes für zulässig gehalten, weil die Schadensentwicklung hinsichtlich der Erblindung noch nicht abgeschlossen und nicht überschaubar sei. Darüber hinaus hat das Landgericht berücksichtigt, dass nach den Ausführungen des Sachverständigen bereits am 26.02.2009 ein Gesichtsfeldschaden vorgelegen habe und dieser nicht mehr durch das Schmerzensgeld auszugleichen gewesen sei.
Dagegen richtet sich die Berufung der Klägerin. Sie macht geltend, dass das Landgericht den Schmerzensgeldanspruch der Klägerin nicht in Teilbeträge habe aufteilen dürfen. Die Klägerin habe zunächst ein Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 45.000 € verlangt, wobei sich dieser Betrag auf die Fehlerfolgen in der Schule, bei sportlichen Aktivitäten, in der Freizeit und auf die psychische Belastung aufgrund der Sehverschlechterung bezogen habe. Zu diesem Zeitpunkt sei die Möglichkeit einer vollständigen Erblindung noch gar nicht bekannt gewesen. Dies habe sich erst aus den sachverständigen Ausführungen ergeben. Dementsprechend sei auch dem Vergleichsvorschlag der Kammer nicht gefolgt worden, wobei man darauf hingewiesen habe, dass aufgrund des vollständigen Erblindungsrisikos ein wesentlich höheres Schmerzensgeld berechtigt sei. Dies beziffere die Klägerin aufgrund ihrer Jugend mit mindestens 80.000 €.
Es sei auch nicht korrekt, wenn die Kammer die Voraussetzungen für die Ausurteilung eines Teilschmerzensgeldes für vorliegend erachtet habe; ein Teilschmerzensgeld komme nur in besonderen Ausnahmefällen in Betracht, wenn die zukünftige Entwicklung noch nicht überschaubar sei. Im vorliegenden Fall sei die Gefahr der vollständigen Erblindung der Klägerin objektiv vorhersehbar und naheliegend. Dies habe der Sachverständige bestätigt. Es habe für ihn festgestanden, dass eine Erblindung der Klägerin sicher eintreten werde. Vor diesem Hintergrund habe man ein einheitliches Schmerzensgeld aufgrund aller bereits vorhersehbaren Folgen ausurteilen müssen. Im Übrigen sei das Urteil des Landgerichts auch völlig unbestimmt hinsichtlich der Folgen und zeitlichen Begrenzungen, so dass gar nicht bestimmbar sei, worüber rechtskräftig entschieden sei.
Die Klägerin beantragt,
unter teilweiser Abänderung des erstinstanzlichen Urteils,
1. die Beklagte zu verurteilen, an sie über die ausgeurteilten 25.000 € hinaus ein weiteres in das Ermessen des Gerichtes gestelltes Schmerzensgeld nebst fünf Prozentpunkten Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 18.02.2011 zu zahlen,
2. hilfsweise festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihr alle gegenwärtigen und künftigen materiellen sowie vorhersehbaren immateriellen Schäden aus der Behandlung vom 08.10.2007 bis 26. 02. 2009 zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf einen Sozialversicherungsträger oder sonstigen Dritten übergegangen sind.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt das angefochtene Urteil.
Wegen des weiteren Sach – und Streitstandes wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils sowie die in der Berufungsinstanz gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.
Der Senat hat die Parteien sowie den Sachverständigen Prof. Dr. Q nochmals angehört. Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf den Berichterstattervermerk vom 19. April 2016 verwiesen.
II.
Die Berufung ist begründet.
Der Klägerin steht im zugesprochenen Umfang ein Schmerzensgeld gemäß §§ 280 Abs. 1, 823, 253 Abs. 2 BGB zu.
Nach der erneuten Anhörung des Sachverständigen hält der Senat das bislang ausgeurteilte Schmerzensgeld für erheblich zu niedrig.
Es verbleibt auch nach der erneuten Anhörung des Sachverständigen dabei, dass die Beklagte es am 26.02.2009 in grob fehlerhafter Weise unterlassen hat, eine weitergehende Untersuchung durchzuführen, die ein Ergebnis erbracht hätte, dass zu einer sofortigen Einweisung ins Krankenhaus mit entsprechender Behandlung geführt hätte, wie sie dann erst im März 2009 erfolgt ist. Nach Darstellung des Sachverständigen war es aufgrund der fehlgeschlagenen Untersuchung am 18.02.2009 zwingend am 26.02.2009 erforderlich, der Ursache der nur noch vorhandenen und persistierenden Sehfähigkeit von 60% nachzugehen und den Sehnerv zu betrachten, nachdem die bisherigen Untersuchungen keine pathologischen Veränderungen ergeben hatten. Seiner Ansicht nach gehört die Betrachtung des Sehnervs bereits zur Basisuntersuchung und musste nachgeholt werden. Dabei hat der Sachverständige schon erstinstanzlich darauf hingewiesen, dass angesichts des im März 2009 vorhandenen Umfangs die Schädigung auch schon zu diesem Zeitpunkt deutlich sichtbar gewesen wäre und in jedem Fall zu einer Augeninnendruck- und Gesichtsfeldmessung hätte führen müssen. Diesbezüglich war der Sachverständige sicher davon überzeugt, dass die Augeninnendruckmessung ein sofortiges Einschreiten mit Medikamenten und notfallmäßige Einweisung ins Krankenhaus erfordert hätte. Insoweit hätte es der Sachverständige für unentschuldbar und nicht nachvollziehbar gehalten, wenn man nicht in diesem Umfang reagiert hätte.
Infolge dieses groben Befunderhebungsfehlers, der von der Beklagten auch nicht mehr bestritten wird, kommt der Klägerin eine Beweiserleichterung zugute, soweit es um die Folgen dieses Behandlungsfehlers geht.
Der Sachverständige hat nämlich dazu ausgeführt, dass es bei der Klägerin sowohl zu einem Verlust der Sehfähigkeit als auch zu einer erheblichen Einschränkung des Gesichtsfeldes gekommen ist, die von der Klägerin selbst als „schauen wie durch eine Röhre“ bezeichnet wird.
Den Verlust der Sehfähigkeit von zuvor noch dokumentierten bis zu 60% am 26.02.2009 auf unterhalb von 30% auf dem rechten und 16% auf dem linken Auge im März 2009 hat der Sachverständige als erheblichen Verlust der Lebensqualität angesehen. Dazu hat er ausgeführt, dass ein Patient mit einer Sehfähigkeit von 60% durchaus noch ein adäquates Leben führen kann, weil erst unterhalb von 40% u.a. das flüssige Lesen nicht mehr gewährleistet ist.
Soweit er davon ausgegangen ist, dass auch schon im Februar 2009 ein erheblicher Gesichtsfeldschaden vorlag, weil die durch die Glaukomerkrankung langsam eintretende Schädigung des Sehnervs zunächst zu einem Ausfall des Gesichtsfeldes führt und erst in einem späteren Stadium der Verlust der Sehfähigkeit hinzukommt, die vom Patienten dann auch erst bemerkt wird, konnte er jedoch nicht genau angeben, in welchem Umfang dieser Schaden tatsächlich schon eingetreten war. Er hat es vielmehr gerade nicht für ein medizinisches Wunder gehalten, wenn die Klägerin zu diesem Zeitpunkt noch ein Gesichtsfeld von mindestens 30° hatte, was ihr bei einer Sehfähigkeit von 60% sogar noch die Möglichkeit eröffnet hätte, einen Führerschein zu erwerben. Insoweit hat er es schon erstinstanzlich für durchaus möglich gehalten, dass der weitere Schaden, wie er sich im März 2009 dargestellt hat, durch ein früheres Eingreifen zu verhindern gewesen wäre, weil der überhöhte Augeninnendruck während der gesamten Zeit einen negativen Einfluss auf den Sehnerv hatte. Außerdem spricht seinen Angaben zufolge der Umstand, dass sich die Situation nach dem sofortigen Eingreifen stabilisiert hat, dafür, dass ein rechtzeitiges Eingreifen ein besseres Ergebnis hätte erbringen können.
Die Klägerin macht insofern ein Schmerzensgeld in Höhe von insgesamt 80.000 € zu Recht geltend, wobei sie ausdrücklich keine offene Teilklage erhoben hat. Soweit das Landgericht im Hinblick auf die nach den Ausführungen des Sachverständigen zu einem jetzt noch unbekannten Zeitpunkt drohende Erblindung lediglich wegen der bis zur mündlichen Verhandlung bestehenden Folgen ein Teilschmerzensgeld von lediglich 25.000 € für berechtigt gehalten hat, berücksichtigt dies nicht in ausreichendem Maße, dass der jugendlichen Klägerin durch die verspätete Behandlung die Möglichkeit genommen wurde, ein adäquates Leben zu führen. So ist sie in großem Umfang an der Ausübung sportlicher Aktivitäten gehindert, kann keinen PKW führen und muss letztlich den Beruf zu ergreifen, der ihren jetzigen Möglichkeiten entspricht. Insoweit hat der Sachverständige nämlich darauf hingewiesen, dass wegen der Erblindungsgefahr, die bei entsprechender Stabilität der jetzigen Situation zwar in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren noch nicht droht, aber zumindest wegen des natürlichen Verlustes der restlichen Pufferzone beim Sehnerv zumindest nach dreißig bis vierzig Jahren, schon bei der weiteren Lebensplanung und der Berufswahl diese Problematik berücksichtigt werden muss. Tatsächlich muss die Klägerin auch jetzt wegen des Verlustes ihrer Sehfähigkeit im Rahmen ihrer Ausbildung zur Kauffrau für Büromanagement in der Schule einen Betreuer – wie auch schon im Gymnasium – haben, der den Lehrern ihre Problematik verdeutlicht, sowie einen speziell ausgerichteten Arbeitsplatz, damit sie überhaupt auf dem Computer etwas lesen kann. Es bedarf keiner Frage, dass eine solche Sehbehinderung in diesem Umfang zunächst für die Klägerin als Kind sowie jetzt als junge Frau einen erheblichen Verlust an Lebensfreude darstellt. Mit dieser Problematik muss sie auch zukünftig leben, weil sich die gesundheitliche Situation nach Darstellung des Sachverständigen nicht bessern, sondern bestenfalls durch regelmäßige Kontrolluntersuchungen stabil gehalten werden kann. Insoweit hat der Sachverständige darauf verwiesen, dass es sich bei der Erkrankung der Klägerin eigentlich um eine Alterserkrankung handelt, so dass die meisten Patienten ihre Erblindung gar nicht mehr erleben werden. Angesichts der weitreichenden Schädigung des klägerischen Sehnervs, der keine große Pufferzone bis ins Alter mehr hergibt, geht der Sachverständige allerdings davon aus, dass die Klägerin noch zu Lebzeiten erblinden wird, wobei es ihm aber nicht möglich ist, diesen Zeitpunkt genauer zu bestimmen.
Vor diesem Hintergrund hält der Senat für die derzeit bestehenden Einschränkungen ein Schmerzensgeld von insgesamt 80.000 € für berechtigt, um die schon bestehenden und auch zukünftig absehbaren Folgen auszugleichen. Dabei ist ausschließlich die vollständige Erblindung nicht berücksichtigt worden, weil deren Eintritt nach den Ausführungen des Sachverständigen zeitlich nicht hinreichend sicher absehbar ist; im Übrigen sind aber die bereits ausgeführten erheblichen Einschränkungen in der Lebensqualität auch ohne die Erblindung heute schon vorhanden und auch für die Zukunft ausreichend absehbar.
Der Zinsanspruch ergibt sich in Höhe von weiteren 15.000 € aufgrund des Mahnschreibens vom 20.01.2011 mit Fristsetzung zum 17.02.2011 und hinsichtlich weiterer 40.000 € aus §§ 291, 288 BGB.
Die Kostenentscheidung folgt aus § § 92 Abs. 2, 516 Abs. 3 ZPO.
Die vorläufige Vollstreckbarkeit hat ihre Rechtsgrundlage in §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
Einer Zulassung der Revision bedurfte es nicht, weil die Sache keine grundsätzliche Bedeutung hat und weder zur Fortbildung des Rechts noch zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist, § 543 Abs. 2 ZPO.